03.06.2010, München, Rationaltheater: Lesung mit Livemusik "Jazz in Zeiten des Nationalsozialismus"

Zuletzt aktualisiert am Sonntag, den 30. Mai 2010 um 17:36 Uhr Geschrieben von: Marcus Woelfle Mittwoch, den 03. Juni 2009 um 00:00 Uhr

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München, Rationaltheater, 20 Uhr
Lesung mit Live Musik und Musikeinspielungen von Marcus Woelfle

 

Marcus Woelfle (v)
Ludwig Auwald (p)
Jon-Michael Winkler (g)
Harry Cane (d)

 

Zur Uraufführung schrieb Dirk Wagner (Süddeutsche Zeitung):

Rauschgift Musik
Ein Vortrag über Jazz im Nationalsozialismus
Ein allgemeines Jazzverbot habe es in Nazi-Deutschland nie gegeben, erklärt der Publizist und Jazzgeiger Marcus A. Woelfle im Amerikahaus. Dazu hätten die Nazis erst einmal rein musikalisch definieren müssen, was Jazz überhaupt ist. Oft hätten sie diesen aber gar nicht erkannt: Sicherheitshalber deutschten die Musiker die Titel ihrer Jazzstücke ein. Aus dem "St. Louis Blues" wurde die "Ballade vom blauen Ludwig" und aus "Whispering" "Lass mich dein Badewasser trinken". Begleitend zu seinem Vortrag "Jazz in Zeiten des Nationalsozialismus" liefert Woelfle auch die passenden Klangbeispiele: Tondokumente aus jener Zeit ebenso wie Live-Interpretationen alter Jazzschlager mit seinem eigenen Quartett, das mit Konzertflügel, Akkordeon, Gitarre, Bass, Schlagzeug und Geige das Biedere der deutschen Jazzdarbietungen ebenso einfängt wie das Verwegene, Ausbrechende, das mit jener Musik immer auch mitschwang. Denn, so Dave Brubeck: "Jazz ist die einzige heute existierende Kunstform, in der es die Freiheit des Individuums gibt, ohne dass dabei das Gemeinschaftsgefühl verloren geht." Weswegen später für den Pop-Papst Joachim Ernst Behrendt ganz klar war: "Diktatoren swingen nicht".
Trotzdem war der Jazz auch in der Nazi-Diktatur nicht zu bremsen. So lief einmal in einem Kino am Odeonsplatz der Propagandafilm "Rauschgift Jazz", der die Minderwertigkeit der Jazzmusik betonte und akrobatisch tanzende Schwarze als Verrückte diffamierte. Eine wegen des Zuschauerandrangs geplante zweite Vorstellung wurde verboten, weil man erkannte, dass die Zuschauer aus Jazz-Begeisterung kamen. Während des Krieges gründeten die Nazis dagegen selbst das bestbesetzte Jazzorchester, um in Übersee-Rundfunkprogrammen Weltoffenheit zu suggerieren. Und während die Swingjugend in Deutschland trotzdem verfolgt wurde, ließ sich im besetzten Paris ein Luftwaffenleutnant stolz mit der Swinglegende Django Reinardt fotografieren, der trotz seiner Sinti-Herkunft auch in dieser Zeit höchstes Ansehen erfuhr. Woelfle schließt seinen Vortrag über solcherlei Absurditäten mit einer Jamsession, die eindrucksvoll die Freiheit des Individuums im Gemeinschaftsgefühl Jazz demonstriert. DIRK WAGNER